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Alt 04.03.2010, 22:00
Urmel Urmel ist offline
Fürst / Fürstin
 
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Standard AW: Erdbeben Staerke 8.8 in Chile

Hallo,
das sogenannte 'Wohlfühlen', in einem Land, hängt immer von den eigenen Ansprüchen und Erfahrungen und dem Wahrnehmen ab.
Ich möchte nicht undankbar sein, da ich hier seit 15 Jahren lebe und es mir, bis auf wenige Ausnahmen, nicht schlechtgegangen ist.
Automatisch ist man hier als Nordeuropäer mit der Oberschicht gleichgestellt, aber von dieser nicht angenommen, es sei denn man arbeitet in der Botschaft, oder in einem deutschen Unternehmen, in höherer Position.
Hier in Chile sind 'Seilschaften' sehr stark ausgeprägt, man lernt sich hier im teuren, bezahlten Kindergarten kennen, geht weiter über Privatschulen und Universitäten und hält ein lebenlang zusammen. Es ist eine Feudalgesellschaft, als Kind der Oberschicht hat man, egal was man tut, oder leistet, einen Anspruch auf ein angenehmes Leben und wird dabei selbst von der Polizei nicht belästigt. Diese ist grösstenteils korrupt, wie auch 99 % der Richter und Staatsanwälte.
Man kennt seine Leute bei der Bank, Finanzamt usw, lebt in einem eingezäuntem und bewachtem Gebiet, hat schlechtbezahlte Hausangestellte, Gärtner, Kindermädchen, Malls, Ferienorte an der Küste in den Bergen, an den Seen, sowie Gutshöfe. Heile Welt.
Dann kommt die Bussi-Bussi Gesellschaft, wo 'mein Haus, ist dein Haus' als hohle Floskel im Raum steht. Man lebt nicht ganz so exquisit, mehr auf Pump und muss mehr zeigen, was man hat. Kultur wird kleingeschrieben, aber man lebt in einer unübertroffenen Arroganz.
Der Rest kämpft um's Überleben, ist total verschuldet. Für die Kinder werden enorme finanzielle Anstrengungen gemacht, um sie ins private Schulsysthem zu bringen, damit sie es einmal besser haben.
30 % der Chilenen sind arm, wobei arm heisst, sie haben weniger als 50 Dollar im Monat zum leben. 60 %, die Mittelschicht, verdient um den Minimallohn herum, d.h. 200 Euro im Monat.
Der Staat, der über hohe Kupfereinnahmen verfügt, fängt diese mit staatlich finanzierten Wohnungen und Häusern auf, wo sie nur Minimumpreise für Strom und Wasser zahlen müssen. Man lebt mit 3 Generationen auf 36 qm zusammen. Rentner müssen arbeiten, bis sie umfallen, Väter arbeiten, oder sitzen im Gefängnis, Kinder handeln mit Drogen, oder brechen ein, da sie bis 16 nicht bestraft werden können. Zukunftsperspektive haben sie nicht. Einmal arm, immer arm.
Ärztliche Versorgung ist schlecht, für Arme aber gratis. Reiche gehen in extrem teure Privatkliniken.
Als Hundeliebhaber ist man schlecht dran, Wälder, Felder und Wege sind privat, auf der Strasse gibt es tausende Streunende Hunde. An Flüssen, Seen gibt es keine Wege und ringsrum ist alles Privat. Die Landschaft ist grossartig, aber alles ist eingezäunt und überall ist Armut.
Im letzten Jahr ist in 38 % aller Privathäuser eingebrochen worden, die Politiker werden immer korrupter und dreister. Internationaler Drogenhandel und Geldwäscherei, wird hier gross geschrieben. Betrügereien, auch sehr gerne an Ausländern, werden kaum geahndet.

Ich kenne in Santiago ein Rentnerehepaar aus der Schweiz, die leben eingezäunt im Reicheleuteviertel, brauchen keine Steuern zu bezahlen und fahren nur in wohlsituierte, bewachte Urlaubsorte, oder fliegen nach Europa. Chile und Chilenen kennen sie kaum, fühlen sich aber sehr wohl hier.
Mein Thüringer, verkrachte Existens, ohne Schulausbildung und Beruf aus Deutschland, hat hier als 'europäischer Oberschichtler', ein gutverdienendes Mädel geschwängert, sie geheiratet und lebt ohne arbeiten zu müssen, als Hausmann, mit Hausangestellter und fühlt sich sauwohl. Er möchte auch garnicht zurück. Kultur hat er nie kennengelernt, deswegen vermisst er sie auch nicht.
Ich fühle mich nicht wohl, so wie die Einen zu Leben und das andere gefällt mir überhaupt nicht.
Vielleicht bin ich zu sehr in der sozialen Marktwirtschaft aufgewachsen und habe es zu leicht als Grossbürgerssohn gehabt, aber meine Ansprüche ans Leben, werden hier nicht erfüllt. Ich sehe die Ungerechtigkeiten und möchte nicht daran teilnehmen.
Das ist mein moralischer Anspruch und ich bin gerne bereit dafür zu verzichten und wieder neu anzufangen.
Gruss
Jorg

Geändert von Urmel (04.03.2010 um 22:04 Uhr)
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