Einzelnen Beitrag anzeigen
  #1 (permalink)  
Alt 01.03.2005, 17:35
Benutzerbild von Ingrid
Ingrid Ingrid ist offline
Sankt Woopsulina
 
Registriert seit: 17.02.2005
Ort: Schweiz, Nähe Zürich
Beiträge: 1.384
Beitrag Zuchtwertschätzung, Teil 1

Zuchtwertschätzung in der Hundezucht
Dr. Reiner Beuing

Institut für Tierzucht und Haustiergenetik der Justus Liebig Universität Giessen




Zuchtwertschätzung ist für manche Rassen bereits Selbstverständlichkeit im züchterischen Alltag geworden. Sie bietet Orientierungshilfe für die Zuchtberatung oder die persönlichen Zuchtentscheidungen, in einigen Fällen sind aber auch strenge Grenzwerte in Zuchtordnungen hinterlegt.

Seit 1988 ist in Deutschland routinemäßig im Rahmen der EDV-unterstützten Zuchtbuchführung auch die Zuchtwertschätzung möglich. Viele Klubs haben sich dadurch in die "Gruppe der Fortschrittlichen" eingereiht. Es gibt Kooperationen über die Ländergrenzen hinaus und z.T. einen internationalen Datenverbund.

Einerseits gibt es Beispiele dafür, wie mit der Zuchtwertschätzung und den daraus abgeleiteten Konsequenzen ein unvorstellbarer Zuchtfortschritt erreicht wird, andererseits ist aber die Zuchtwertschätzung allein nicht in der Lage, Probleme zu lösen. Es ist wie bei einer Diät: Zu wissen, wieviele Kalorien in einem Kuchen sind nützt nichts, solange man daraus keine Konsequenzen zieht.

Dieser Beitrag soll die entscheidenden Punkte der Zuchtwertschätzung nochmals beleuchten, die Situation in der Hundezucht ansprechen und schließlich an die Möglichkeiten der zuchtwertorientierten Zuchtplanung erinnern.


Was ist ein Zuchtwert?

Der Zuchtwert ist ein Zahlenwert für die Anwendung in der Zucht. Er beschreibt, welche Wirkung die Gene eines Tieres auf ein einzelnes Merkmal haben, wenn diese mit den Genen der anderen Tiere der Rasse kombiniert werden und durchschnittliche Umweltverhältnisse herrschen.

Diese Definition eines Zuchtwertes offenbart drei wesentliche Dinge:

1. Der Zuchtwert ist ein Zahlenwert, er hat primär nichts mit wertvoll oder wertlos zu tun. Ein hoher Zuchtwert für HD besagt, daß die Gene des Tieres die Hüftgelenksdysplasie verstärken. Ein niedriger Zuchtwert für "Schwergeburt" sagt, daß die Gene für geringeres Schwergeburtrisiko verantwortlich sind, ein hoher Zuchtwert deutet entsprechend an, daß das Tier Gene hat, die für ein höheres Schwergeburtrisiko verantwortlich sind.

2. Der Zuchtwert ist ein Zahlenwert für jeweils ein Merkmal. Ein Tier hat z.B. Gene, welche die Größe verstärken, die HD verringern, die Fruchtbarkeit reduzieren, die Kopfstärke rassetypisch belassen, den Raumgriff im Gang reduzieren usw. Für jedes Merkmal kann die Wirkung der in diesem Hund vorliegenden Erbanlagen verschieden sein. Es macht keinen Sinn, so etwas zu einem Gesamtzuchtwert zusammenzuzählen oder zu mitteln, etwa wie bei einem Wettkampf oder einer Leistungsprüfung.

3. Der Zuchtwert ist definiert als die Wirkung der Gene, wenn diese mit den Genen der anderen Tiere kombiniert werden. Das heißt konkret, daß nicht die Wirkung der Gene bei dem Tier selbst wichtig ist, sondern es interessiert vorrangig was passiert, wenn z.B. die Gene eines Rüden mit den Genen der in der Rasse vorhandenen Hündinnen kombiniert werden. Von Interesse ist also, was in der nächsten Generation durch dieses Zuchttier entsteht.


Woher bekommt man Informationen ?

In der praktischen Tierzucht ist man noch weit davon entfernt, Gene selbst zu identifizieren und ihre Wirkung allgemeingültig vorherzusagen. Daher müssen Tierzüchter sich auf das Erscheinungsbild stützen, daß von den Genen bzw. den Genwirkungen mitbestimmt wird. Dieser Phänotyp ist aber nur die Genwirkung in Verbindung mit der Wirkung von Aufzucht, Prägung, Ernährung, Erziehung und Erfahrung, also in Verbindung mit spezifischer Umwelt. Würde man die Leistung bzw. Erscheinung eines Tieres mit seiner genetischen Veranlagung gleichsetzen, würde man einen großen Fehler machen.

Da die Gene eines Tieres in dem Tier selbst wirken, ist die Eigenleistung natürlich informativ. Da die Gene von Vater und Mutter ererbt wurden, jeweils zur Hälfte, ist es daher sinnvoll und wichtig, die Leistungsabweichung der Eltern mit einzubeziehen. Da die Eltern ihre Erbanlagen nicht nur an das Tier selbst weitergegeben haben, sondern auch an ihre anderen Nachkommen, also seine Geschwister, müssen die Genwirkungen auch dort zu beobachten sein. Entscheidend ist aber letztlich, was die Gene in der Nachzucht bewirken: Überdurchschnittlichkeit oder Mäßigkeit? Die Nachzucht, im Laufe der Zeit immer umfangreicher, deckt immer mehr auf, was für einen Zuchtwert ein Tier wirklich hat.

Aus dem oben genannten ergibt sich, daß alle Verwandten, da sie einen Teil des Erbgutes mit dem Tier gemeinsam haben, informativ für den Zuchtwert eines Tieres sind. Dabei ist der Informationswert zunächst einmal vom Verwandtschaftsgrad abhängig. Dieser ist definiert als "Übereinstimmung der Gene". Eltern sind mit ihren Kindern zu 0,5 verwandt, weil sie in ihrem Erbgut zu 50% mit jedem ihrer Eltern übereinstimmen. Eineiige Zwillinge haben einen Verwandtschaftsgrad von 1,0, da sie 100%ig identische Gene besitzen. Enkel sind mit dem Großvater zu 0,25 verwandt, ebenso wie Halbgeschwister, die auch 25% gemeinsame Gene besitzen. Daraus ergibt sich, daß entfernte Verwandte wenig informativ sind und enge Verwandte größere Aussagekraft haben. Da das Tier mit sich selbst 100%ig verwandt ist, kommt der Eigenbeurteilung natürlich auch eine große Bedeutung zu.

Erwähnenswert ist darüberhinaus, daß der Informationswert eines Verwandten davon abhängig ist, wieviel bereits bekannt ist. Ein Nachkomme bringt viel Wissen, wenn er z.B. der erste geprüfte Sohn eines Importrüden ist, der gleiche Nachkomme bringt aber nichts an neuen Erkenntnissen, wenn bereits Ergebnisse von 150 Nachkommen vorliegen.

Ohne auf die Rechentechnik näher einzugehen, nach der die unterschiedlichen Informationen kombiniert werden, läßt sich festhalten, daß die vielen Informanten selbstverständlich mehr Aussagekraft haben als die Information über das Tier allein. Zwar ist in den Verwandten das Erbgut nie vollständig enthalten, sondern nur zur Hälfte, einem Viertel, Achtel usw., aber die vielen Informationen zusammengenommen bewirken, daß sich die verschiedenen Umwelteinflüsse mitteln und auch die Beimischungen anderer Gene in den Verwandten werden rassetypisch (repräsentativ).

Nie wird man so viele Informationen haben, daß der wahre Zuchtwert 100%ig sicher erkannt werden kann. Daher spricht man auch ehrlicherweise von Zuchtwert-Schätzung. Aus dem Zuchtwert der Eltern hat man eine Vorahnung, was in einem Welpen für Gene stecken könnten. Dadurch, daß die Welpen nur eine zufällige Hälfte der väterlichen und mütterlichen Gene erhalten, kann "Zuteilungsglück oder -pech" zu sehr unterschiedlichen Vollgeschwistern führen. Erst die Eigenleistung der Welpen ermöglicht es uns, die Zuchtwertschätzung zu verbessern. Nehmen wir als Beispiel die Größe: Wenn wir einen Rüden haben, der einen Zuchtwert (nicht Phänotyp!) von +1cm hat, und eine Hündin von +-0cm, dann erwarten wir aus dieser Paarung Welpen, die aufgrund der Genwirkungen im Durchschnitt +0,5cm größer werden als die Rasse. Keinesfalls sind die Welpen aber alle gleich ausgestattet worden. Durch die Halbierung des Chromosomensatzes bei der Spermien- bzw. Eizellenbildung kann ein Welpe mehr positive, ein anderer mehr negative Gene für Größe erhalten haben. Allein das Prüfen der herangewachsenen Welpen kann uns helfen zu erkennen, welcher Hund wahrscheinlich Plus- oder Minusvarianten trägt. Die kleineren Tiere werden erniedrigte Zuchtwerte erhalten, die großen erhöhte, denn mit Recht kann man annehmen, daß die kleineren Geschwister wahrscheinlich auch kleiner vererben als ihre großen Geschwister. Da man aber nie sicher ist, ob spezielle Genkombinationen oder eine nicht normale Umwelt zu den gemessenen Unterschieden führte, ist die Erkenntnis aus der Nachzucht, aus mehr und mehr Paarungspartnern, die letzte Absicherung des wahren Zuchtwertes.


Der relative Zuchtwert

Wie in dem oben aufgeführten Beispiel angedeutet, führen die statistischen Rechenverfahren zu einem Zahlenwert, der die Genwirkung in Einheiten des Merkmals beschreibt, für die Schulterhöhe also in cm. Ein Zuchtwert für HD könnte z.B. +0,3 HD-Grade sein, was bedeutet, daß der Zuchteinsatz bei einer repräsentativen Anpaarung eine Nachkommenschaft erwarten läßt, die 0,15 HD-Grade stärker belastet ist als der Rassedurchschnitt (0,15 deswegen, weil nur die Hälfte der Gene weitergegeben wird).

In der praktischen Zuchtarbeit hat es sich gut bewährt, diese absoluten Zahlen als Relativzuchtwerte anzugeben. Dabei setzt man den Rassedurchschnitt auf 100 und transformiert die Werte so, daß sie im Mittel 10 Punkte nach oben und unten schwanken. Leicht läßt sich dann erkennen, daß ein Hund mit 100 durchschnittlich vererbt, ein 95er Hund das Merkmal leicht abschwächt oder ein Hund mit 125 das Merkmal drastisch verstärkt. Die Zahlen sind für alle Merkmale vergleichbar, vor allem wenn man weiß, daß sie in der Regel zwischen 70 und 130 schwanken.
Mit Zitat antworten